„Teaching gender?“

Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung

(Hg.: Juliette Wedl, Annette Bartsch)
Transcript Verlag 2015

Umschlag 'Teaching Gender' in hellblau/türkis

Ein grundlegender Beitrag zu einer geschlechterreflektierenden Pädagogik, die Erkenntnisse der Gender Studies in Schulunterricht und Lehramtsausbildung umsetzt.

Unser Beitrag

Wir haben für das Buch folgendes Kapitel verfasst:

Lilly Axster/Christine Aebi:

„DAS machen?“ Herausforderungen eines anti-normativen Bilderbuches zu Sexualität und Identität mit Arbeitsmaterialien für den Unterricht

Auszüge aus dem Kapitel:

Textliche und illustratorische Werkzeuge gegen Normierung und stereotype Darstellungen

Bei der Konzeption des Bilderbuches und der Webseite wurde uns schnell klar, dass ein Buch zu kindlichen Vorstellungen von Sexualität auch ein Buch über Körperlichkeit und Geschlechterrollen sein muss. In unserem steten Bemühen darum, Stereotype zu vermeiden, waren für uns Vielstimmigkeit, Offenheit, selbstverständliche Repräsentation minorisierter Positionen, Komplexität, Genauigkeit in Gefühlsausdrücken, Beschreibung statt Interpretation und das Konzept der Versuchsanordnung wichtige Werkzeuge.

Transfer zu den Schüler_innen

Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit dem Bilderbuch, der Webseite und in Workshops mit Schulklassen ermöglichen eben diese Differenziertheit (versus kindertümelnder Reduktion), Beschreibung (versus Belehrung) und Komplexität (versus Klischee) den Schüler_innen, die vielen Varianten von Gender-Auftritten zu akzeptieren, ihnen vielleicht sogar etwas abzugewinnen. Sie spüren schnell, dass ihnen nichts erklärt wird und dass die Kinderfiguren im Buch ähnlich vielschichtig denken und fühlen wie sie selbst, wenn es den Raum dafür gibt. Häufig entspinnen sich entlang der Meinungsverschiedenheiten, ob diese Figur ein Mädchen, jene ein Junge sei, ausgiebige Gespräche. Diese gehen mitunter weit über eine traditionelle Sichtweise auf Gender-Rollen hinaus und machen ein immenses Wissen auch jüngerer Kinder zu Themen wie Transidentitäten, Intersexualität und Queerness sichtbar. Natürlich basiert ihr Wissen nicht auf diesen Begriffen, ist aber dadurch nicht weniger komplex. Im Gegensatz dazu durchschauen Kinder und Jugendliche es sehr schnell, wenn ihnen eine Figur als etwas anderes vermittelt werden soll als das, was sie eigentlich ist, etwa durch das schlichte Umdrehen von Geschlechterrollen oder das banale Austauschen von Stereotypen. Dann, so unsere Erfahrung, verlieren die Schüler_innen schnell das Interesse, weil sie sich nicht ernst genommen fühlen.

Wie in der Schule konkret die Vermittlung des Uneindeutigen bzw. das Angebot zum Aushebeln von Gender-Normen aussehen kann, wird in den folgenden sechs Übungen vorgestellt (die Anleitungen finden sich unter dem Menüpunkt ‚Unterrichtsmaterialien‘.

Nins Kleiderkasten

  • Von Gewürzen und Suppennudeln: Haar-, Bart-, Schmink- und Chromosomenstation
  • Stell dir vor, ich wäre ein Mädchenjunge oder ein Jungemädchen
  • Piktogramme – Wegweiser durch den öffentlichen Raum
  • »Ich wollte alles sein« – Interviews und Hörgeschichten
  • Mit und ohne Flügel – Binden entwerfen und gestalten

Alle sechs Übungen, die auch mit Stationen als Parcours aufgebaut werden können, sind praktische Versuche, der Zweigeschlechterordnung attraktive andere Modelle entgegenzusetzen. Sie sind für sich stehend konzipiert, unabhängig von dem Buch DAS machen?. Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass unsere Erfahrungen sich aus Workshops speisen, die wir als außerschulische Personen durchgeführt haben.

Leichtigkeit, Humor und Interesse

Als erfolgreich schätzen wir Prozesse in der Klasse ein, die erhellende Begegnungen ermöglichen, durch Diskussionen bereichern, zum gemeinsamen Denken und zur Kreativität anregen und Spaß machen. Am besten nebenbei, ohne dass das Thema »Teaching Gender« als solches abgearbeitet wird. Dazu ist unserer Erfahrung nach ein Einstieg über kreative Zugänge hilfreich. Mehr dazu in der Beschreibung der einzelnen Übungen.
Je unpädagogischer und ohne vorgegebenes Lernziel eine Übung sich präsentiert, desto eher begleiten Leichtigkeit, Humor, Interesse und ein Gefühl von Freiheit die Beschäftigung mit Körper, Sexualität und Gender-Fragen. Um zu solch einer Leichtigkeit zu kommen, braucht es Zeit. Ein Projekt über einen längeren Zeitraum bietet mehr Möglichkeiten für diese so wichtigen Zwischentöne oder aber ist geeignet für Klassen, in denen es tägliche Praxis ist, Dinge ausprobieren zu dürfen und selbst zu wählen, mit was jede_r sich intensiver beschäftigen möchte.

Voraussetzungen

Für alle Übungen ist ein respektvolles, wertschätzendes Klima in der Klasse notwendig. Ist das nicht vorhanden, lässt sich nach unserer Erfahrung kaum über Vorstellungen davon sprechen, wer wie zu sein hat und wer wie sein will, ohne dass es zu Abwertung und Spott kommt. Die Themen eignen sich leider allzu gut, um minorisierte Standpunkte in der Klasse und Kinder in Außenseiter_innenpositionen durch diejenigen auf ihre Plätze zu verweisen, die in der Klasse bestimmen, was angesagt und erwünscht ist. Vonseiten der Lehrkraft ist das Bemühen um Durchlässigkeit nicht nur hilfreich, sondern Voraussetzung. Durchlässigkeit meint hier so viel wie greifbar zu sein für die Schüler_innen, einen eigenen Standpunkt zu vertreten, auf Fragen wirklich zu antworten und an kleinen oder großen Prozessen, die womöglich in Gang kommen, selbst ein erkennbares Interesse zu haben und zu zeigen. Das heißt aber auch, sich auf das einzulassen, was in den Übungen entsteht und diesen nicht ein Lernziel überzustülpen.

Selbstreflexion

Voraussetzung ist auch die Bereitschaft der Lehrenden zur Selbstreflexion. Schüler_innen haben ein gutes Gespür dafür, ob die Lehrkraft sich einem Thema zuwendet, weil es sein muss, oder weil es sie (auch) persönlich interessiert und etwas mit ihr selbst zu tun hat. Wir stehen als Erwachsene nicht über der Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, sondern mittendrin. Die Übungen richten sich folglich nicht nur an die Schüler_innen, sondern auch an die Lehrenden. Die Materialien sollen nicht den Status quo fortschreiben, sondern überraschen, anregen, herausfordern. Und zwar zuallererst die Erwachsenen. Wenn eine Lehrkraft sich in einer Übung zu Gender-Fragen vielleicht zum ersten Mal mit Intersexualität auseinandersetzt oder in einer anderen Übung darüber nachdenkt, wie sie selbst zu ihrer Gender-Identität gefunden hat, dann ist bereits ein Prozess in Gang gesetzt, der im Sinne des Themas in den Schulalltag zurückwirkt.

Neugierde auf Ungewohntes

Wir haben häufig erlebt, dass Lehrer_innen zunächst enttäuscht sind, weil ihre Schüler_innen eben nicht die Geschlechterordnung auf den Kopf stellen, sondern im Gegenteil anhaltend klischiertes Verhalten zeigen. Unsere Erfahrung ist, dass die oft minimalen Verschiebungen in der Beurteilung von Geschlechterrollen, der Ansatz von Neugierde auf Ungewohntes, die Ahnung einer Erkenntnis nebenbei im Tun entstehen und nicht unbedingt als messbares Ergebnis zu fassen sind. Die Schüler_innen werden nach keiner der Übungen andere sein. Aber sie haben im besten Fall etwas erlebt, das sie berührt oder bestärkt oder irritiert oder das ihnen neu ist oder das sie fröhlich macht oder das Mitschüler_innen in einem neuen Licht zeigt. Solche Momente haben wir in der Arbeit mit Schulklassen oft erlebt und wir halten sie für das eigentliche Ziel der sechs vorliegenden Übungen.

Eltern und Erziehungsberechtigte

Sorge vor den möglichen Reaktionen der Eltern und Erziehungsberechtigen halten Lehrer_innen häufig davon ab, ihren Schüler_innen die Komplexität von Fragen zu Geschlechterrollen sowie die Beschäftigung mit dem Körper und Sexualität zuzutrauen. Es erscheint sicherer, in einer kurzen Einheit zu vermitteln, dass ein X bzw. Y festlegen, ob jemand eine Frau oder ein Mann ist, als den Schüler_innen, symbolisch gesprochen, neue Buchstabenkombinationen anzubieten. Eltern werden sich nicht wundern, wenn in der Schule die Bedeutung und Geschichte von Piktogrammen und Zeichensprachen vermittelt wird. Wenn aber das anerkannte Ordnungssystem dieser kleinen Wegweiser durch veränderte Piktogramme infrage gestellt wird, können Verunsicherung und Aggression ausgelöst werden. Wenn nicht (nur) gelehrt wird, welches die fruchtbaren Tage während des Zyklus sind, sondern Binden als Augenklappe, Liebesbrief oder Geschenkpapier verwendet werden, mag das Erstaunen, Irritation oder auch Empörung hervorrufen. Es war noch nie reibungslos, sicher geglaubte gesellschaftliche Parameter zur Diskussion zu stellen oder versuchsweise auszuhebeln. Nichts anderes aber tun Lehrer_innen, wenn sie Schüler_innen eine große Bandbreite an Gender-Verständnis zur Verfügung stellen und Fragen zur sexuellen Identität anti-normativ aufbereiten.

Spielregeln

(Vgl. auch Early learning resource unit (1997: 224))

Regeln für das Sprechen auszumachen und einzufordern, macht ein solches Projekt manchmal überhaupt erst möglich. Folgende Spielregeln empfehlen wir, im Vorfeld mit den Schüler_innen zu vereinbaren:

  • Jede_r ist eingeladen, neue Ideen anzudenken und auszuprobieren.
  • Jede_r ist eingeladen, sich in der eigenen Sprache auszudrücken.
  • Es ist erlaubt, verschiedener Meinung zu sein.
  • Es ist nicht okay, andere Personen zu beschuldigen oder abzuwerten.
  • Jede_r ist verantwortlich dafür, dass wir das, was wir wollen, auch bekommen.
  • Wenn große Gefühle in dir aufkommen, versuche, sie in der Gruppe mitzuteilen.
  • Jede_r sollte von sich sprechen und nicht über andere.
  • Jede_r hat die Wahl, sich zu beteiligen oder nicht teilzunehmen.

Zielgruppe

Die meisten Erfahrungen mit dem Einsatz der Übungen haben wir mit Schüler_innen zwischen 8 und 14 Jahren gemacht. Lehrer_innen, die Schüler_innen ihrer Klasse kennend, können am besten einschätzen, was für wen passt. Natürlich variiert der Zugang zu einer Übung, je nachdem ob die Schüler_innen 9 Jahre alt sind, 11 oder 14 Jahre alt, ob sie Lernschwierigkeiten oder eine Behinderung haben, eine Sprache teilen, einander zuhören können oder freies Arbeiten gewöhnt sind. Alle Übungen haben wir auch mit älteren Jugendlichen gemacht und gemerkt, dass wir nach oben hin keine Altersgrenze ziehen würden.

Zeitrahmen

Die für die jeweilige Übung benötigte Zeit variiert je nach Gruppengröße, Interesse, Alter der Kinder, räumlichen und sonstigen Gegebenheiten. Wir geben einen ungefähren Rahmen an.

Gruppen

Alle Übungen eigenen sich für ganze Klassen. Wenn die Schüler_innen es gewohnt sind, sich in Gruppen aufzuteilen, dann empfehlen wir im Sinne des Themas, Gruppen nach anderen Aspekten zusammenzustellen als nach Mädchen und Jungen. Bei der Gruppenfindung ist alles möglich, von Zufallskriterien wie Farbe der Schuhe über geteilte Vorlieben bei Eissorten bis zu gemeinsamen Interessen wie Musikrichtungen, Mediennutzung etc. So wird den Schüler_innen signalisiert, dass Humor mitspielt, persönliche Interessen ernst genommen werden, Zuordnungen variabel sind. Gerade diese drei Signale fehlen oft, wenn es darum geht, sich mit Geschlechterrollen auseinanderzusetzen bzw. ist der Druck vieler Schüler_innen, den Erwartungen an ihre (Gender-)Rolle entsprechen zu müssen, alles andere als humorvoll und fühlt sich alles andere als beweglich an.

Persönliche Fragen an die Lehrkraft

Es ist wichtig und richtig, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten im Auge zu behalten. Bloßes Schweigen als Reaktion auf Interaktion im Schulraum ist allerdings eine ungünstige Botschaft, weil es Sprachlosigkeit vermittelt bei einem Thema, welches gerade aus seinem Schweigen herausgeholt werden soll. Von Fragen zu Geschlechterrollen aus der eigenen Kindheit zu erzählen, ist eine gute Möglichkeit, um ins Gespräch zu kommen, und dasselbe gilt für Antworten, die damals wichtig bzw. die damals unangenehm oder verzichtbar waren. Wenn eine Frage Grenzen verletzt – die der Lehrkraft oder die anderer Schüler_innen – oder als Provokation gedacht ist, sollte thematisiert werden, wo genau das Problem liegt und wieso die Frage nicht beantwortet wird.

Unter dem Menüpunkt Unterrichtsmaterialien finden sich die Übungsanleitungen und Audiodateien.

Schulprojekte / Rückmeldungen

Wir freuen uns über Rückmeldungen, Kritik, Information und/oder Dokumentation von Schul- und anderen Sexualerziehungsprojekten, bei denen u.a. mit DAS machen? oder ähnlichem Zugang gearbeitet wurde.

  • das.machen@bluewin.ch (Josef Gebert / Christine Aebi)
  • dea@dea-publishing.com (Edith Almhofer)
  • domain@dasmachen.net (Lilly Axster / Christine Aebi)
Zeichnung einer Klasse in einer Straße versammelt
Entwurf „Klasse 4c“